Ralf Wagner
[17.8.2004]

Hartz IV - eine Reform ist nicht genug
[oder:
Artikel in der Version der F.A.Z. vom 30.8. 2004]

"Stunde der Wahrheit im Land der Lügen" titelte der Spiegel vor mehr als zwei Jahren. Offenbar viel zu früh, wie die Berichterstattung zu Hartz IV zeigt.
In diesem Jahr werden in Berlin erstmals mehr Erwachsene von Transfereinkommen leben als von eigener Arbeit. In Ostdeutschland ist das schon lange so und auch in einigen Regionen in Westdeutschland. Das bedeutet aber nichts anderes als daß jeder Erwerbstätige einen Nichterwerbstätigen finanziert - über Steuern und Sozialabgaben. Mit durchschnittlich 29 Euro Kosten ist dadurch die Arbeitsstunde in Deutschland auch die teuerste in der Welt. Daß damit der Sozialstaat permanent seiner Finanzierungsgrundlage, der Beschäftigung, durch Rationalisierungsdruck und Auslagerung entgegenwirkt, ist die erste dieser Wahrheiten und eigentlich eine Binsenweisheit.
Erkannt hat das die Regierung wohl. Sie hat schlicht kein Geld mehr und merkt, daß ihr mit immer höheren Abgaben die Einnahmen immer weiter wegbrechen. Zugeben will sie es aber nicht, denn die Überforderung des Sozialstaates ist vor allem das Ergebnis der eigenen Ideologie und der "Wohltaten" zahlreicher Politikergenerationen - aller Parteien. Und so müssen demographische Faktoren, die noch gar nicht wirken, oder die Globalisierung, die es nicht erst seit heute gibt, als Begründung herhalten.
Und auch die Journalisten dieses Landes sind wohl offensichtlich überfordert.  Sie rechnen dramatisch nach, was die von Hartz IV Betroffenen an eigenen Reserven aktivieren müssen, bevor sie Leistungen und kostenlose Sozialversicherung zu erhalten. Daß dieses Geld nicht von einem anonymen Staat kommt, sondern von Steuer- und Beitragszahlern scheint niemanden zu interessieren. Dabei würde ein Blick auf die Einkommen von Krankenpflegern, Frisösen, Finanzbeamten und Gemüsehändlern zeigen, daß sie nach Abzug eben dieser Steuern und Sozialabgaben mitunter netto kaum mehr als Transferempfänger bekommen. Insofern ist Hartz IV richtig, überfällig und in der Tat auch sozial.
Allerdings fördert die Korrektur der einen Lüge die damit verbundenen anderen Lügen um so offener zutage - und vielleicht scheut die Regierung die Offensive ins Sachen Hartz auch aus Angst vor den damit verbundenen Konsequenzen.
Wahrheit Nummer 2 ist, daß es ein "Ende der Erwerbsarbeit" nicht gibt. Ebenso ist jede Arbeit nicht nur zumutbar sondern auch dringend gewünscht. Allein die durch den Staat verursachten (Zusatz-) Kosten der Arbeit verhindern das.  Entweder muß der Staat sie dramatisch reduzieren oder wie in de USA mit einer Negativsteuer korrigieren.
Wahrheit Nummer 3 bricht mit einer weiteren festen Bastion des politisch korrekten Selbstbetrugs der Linken: Wirklich wohlfühlen kann man sich im Sozialstaat nur, wenn man ihn ausnutzt. Und in der Tat hat Deutschland das weltweit ausgefeilteste Anreizsystem für Nichtarbeit: Millionen von Ruheständlern unter 60 und Sozialhilfeempfänger in der dritten und vierten Generation. Dagegen wirkt auch Hartz IV nicht, ganz im Gegenteil.
Wahrheit Nummer 4  betrifft den Osten. Hier beendet Hartz IV dramatisch die Illusion einer massenhaften Anschlußbeschäftigung an alte Arbeitsverhältnisse. Einen wirklichen Aufbau Ost hat so nie gegeben. Die Bilanz der Treuhandanstalt ist verheerend, die Milliardentransfers haben allenfalls zu blühenden Verwaltungen geführt und sind schlußendlich wieder im Westen gelandet. Der Osten ist auf geraume Zeit deindustriealisiert und auf Jahre hinaus ist der beste Tip an die Arbeitnehmer: Geht dorthin, wo es Arbeit gibt.
Wahrheit Nummer 5 zeigt, daß die sogenannten Solidarsysteme ihren Namen nicht verdienen, da sie Zwangssysteme sind, welche die Einzahler entmündigen und sie im Bedarfsfall staatlicher Willkür aussetzten. Wie anders soll man beschreiben, daß jemand, der jahrzehnte in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, nur die gleichen Leistungen wie ein Berufseinsteiger erhält. Erstaunlicherweise verlangt hier aber nicht einmal die FDP eine Privatisierung der Arbeitslosenversicherung.
Und Wahrheit Nummer 6 offenbarte sich nur dank der Umsetzung von Hartz IV. Beamtete Arbeitslose West werden nach Ostdeutschland abgeordnet, um dort gewöhnliche Arbeitslose Ost zu betreuen. Und das machte deutlich, daß nicht alle Arbeitslosen gleich sind. Während die einen ("normale") alle Arbeit annehmen und Leistungskürzungen hinnehmen müssen, ist den anderen (Beamten) nur qualifikationsentsprechende Arbeit zuzumuten und jeder Mehraufwand zu vergüten. Eine Geschichte aus dem Absurdistan des nicht reformierbaren deutschen Berufsbeamtentums.
Wenn also die Bundesregierung Kritik verdient, dann nicht wegen der Reformen, die sie anders als ihre Vorgänger eingeleitet hat, sondern wegen der Reformen, die sie bis heute scheut. Ohne diese aber wird Hartz IV ohne Wirkung bleiben.

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